Die Bauern-Theorie

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Ein blauer Löffel nimmt kleine weiße und schwarze Bauern aus einer silbernen Schüssel. Der Hintergrund ist ein Schachbrett-Muster mit Weiß und Schwarz.
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Als Betroffene wissen Laura und ich, wie schwierig es sein kann, in unserer Gesellschaft mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung zu leben. Wir wissen aber auch, dass es für Außenstehende und Nicht-Betroffene schwierig ist, unseren Alltag zu verstehen. Nichtsdestotrotz möchten wir, dass man uns und unsere Bedürfnisse respektiert. So stellt sich die Frage, wie der Alltag von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten anderen Personen verständlich und nachvollziehbar werden kann.

Christine Miserandino, eine Lupus-Betroffene, kam vor einigen Jahren auf eine Lösung für dieses Problem. Als sie mit ihrer Freundin in ihrem üblichen Lokal saßen und aßen, sagte ihre Freundin plötzlich: Ich möchte wissen, wie es sich anfühlt, du und krank zu sein. Nicht welche Auswirkungen Lupus hat.
Miserandino verstand erst mal die Frage nicht und war verwundert. Ihre beste Freundin kannte sie schon Jahre lang und hatte sie in allen Lebenslagen begleitet. Dann verstand sie, dass es nicht dasselbe ist, über die Symptome einer Krankheit zu wissen, als zu verstehen, wie diese Krankheit den Alltag beeinflusst.

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Um ihre Antwort verständlicher zu machen, nahm Miserandino zwölf Löffel in die Hand. Sie erklärte, dass jeder Löffel für die Menge an körperlicher und geistiger Kraft steht, die sie als chronisch Kranke jeden Tag zur Verfügung hat. Sie erklärte ihrer Freundin, dass sie jede Aktivität genau planen muss, damit sie im Laufe des Tages überhaupt genug Energie hat, um essenzielle Aufgaben wie kochen, duschen und arbeiten gehen zu schaffen. Bitte lest hier die genaue Erzählung und Umfang der ganzen Theorie, um sie in ihrer Komplexität zu verstehen: https://butyoudontlooksick.com/articles/written-by-christine/the-spoon-theory/

Diese wahre Geschichte bringt bei:

  • Es ist in Ordnung, höflich nachzufragen, wie die Behinderung oder Krankheit das Leben beeinflussen, wenn man die betroffene Person gut kennt. Es muss jedoch respektiert werden, wenn die betroffene Person nicht darüber reden möchte.
  • Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten haben eine unterschiedliche Lebensrealität als gesunde Menschen. Diese Lebensrealität soll man nicht bewerten, nur annehmen und respektieren.

Wenn der generelle Alltag also für Menschen mit Behinderungen oder chronische Krankheiten anders ist als der gesunder Menschen, so ist auch ihr Schach-Alltag anders. Mit diesem Wissen haben Laura und ich die Bauern-Theorie aufgestellt. Die Bauern-Theorie folgt dem gleichen Ansatz wie die Löffel-Theorie von Christine Miserandino. Sie bezieht sich jedoch auf die Herausforderungen die Personen mit einer Behinderung oder chronischen Krankheit im Schach-Alltag haben.

Hinweis:

Laura und ich sind kein medizinisch ausgebildetes Fachpersonal. Wir beabsichtigen nicht, wissenschaftlich geprüfte Inhalte mit Garantie auf Vollständigkeit und Korrektheit aufzustellen. Wir möchten lediglich den Austausch zwischen Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten und Nicht-Betroffenen anregen. Dazu bemühen wir uns, unsere Erfahrungen als Betroffene Schachspielende zu bündeln. Aus unseren gemeinsamen Erfahrungen versuchen wir dann, Hilfen und Anregungen zu bieten, damit die Schachwelt inklusiver wird. So ist es auch mit unserer Bauern-Theorie.

Ein blauer Löffel nimmt kleine weiße und schwarze Bauern aus einer silbernen Schüssel. Der Hintergrund ist ein Schachbrett-Muster mit Weiß und Schwarz.
Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Melanie Flores Bernholz.
Ein vollständiges Schachbrett, so wie es gewöhnlicherweise am Anfang jeder Partie aussieht.

Unsere Bauern-Theorie nimmt an, dass jede Schachspielende Person Bauern statt Löffel zur Verfügung hat. In einem Schachspiel hat jede Spielerin und jeder Spieler acht Bauern zur Verfügung. Eine chronisch kranke oder behinderte Person hat seit Anfang an jedoch weniger Bauern zur Verfügung. Das liegt daran, dass chronisch kranke oder behinderte Menschen jeden Tag mit vielen Beschwerden kämpfen, die oft nicht sichtbar sind. Diese können sein: Ängste, Schmerzen, Medikamenteneinnahme, schnelle Erschöpfung, Bedürfnis einer Assistenzperson, eine andere Reizverarbeitung, Bedürfnis öfters die Toilette aufsuchen, Blutdruck oder Blutzucker messen zu müssen etc.

Diese Beschwerden können den betroffenen Personen nicht weggenommen werden. Somit werden chronisch kranke und behinderte Menschen (fast) immer mit einen Nachteil am Brett spielen. Das liegt nicht an ihrem schachlichen Können oder Willen, sondern an ihren Krankheiten oder Behinderungen. Es ist aber möglich, zu verhindern, dass diese Menschen noch mehr Bauern verlieren. Es gibt nämlich viele bürokratische und sonstige Hindernisse, die chronisch kranken und behinderten Schachspielenden viele wertvolle Bauern wegnehmen. Diese sind: keiner barrierefreien Webseiten der Turniere oder Vereine, keiner barrierefreien Anmeldungen zu Turnieren oder Veranstaltungen, keine Behinderten-WCs in Klubs, Vereinen oder andere Spiellokale, keine Rampe oder barrierefreier Eingang und Ausgang bei Spiellokalen und Treffpunkten, keine Bereitschaft Betroffenen zu helfen, Spiellokale zu erreichen oder am Schachspiel teilnehmen zu können, Beleidigungen oder Anfeindungen gegenüber chronisch kranken und behinderten Personen, nicht barrierefreie Hotels und Turniersäle etc.

In unserem folgenden Beispiel ist Lena chronisch krank und hat dadurch eine Gehbehinderung. Lena möchte an einem Schachturnier teilnehmen:

  1. Lena findet in der Anmeldung keine Hinweise zur Barrierefreiheit des Spiellokals. Lena sucht vergeblich in der Anmeldung nach einer Person, an der sie sich wenden kann, um diese zu klären.
  2. Lena muss in einem barrierefreien Hotel weit weg von dem Spiellokal übernachten und kann somit nicht vom Rabat profitieren.
  3. Lena muss mit einer Begleitperson verreisen, weil Lena wegen nicht barrierefreien Hindernissen oft auf Hilfe angewiesen ist. Diese Assistenzperson muss Lena selber zahlen oder Verwandte/Freunde müssen sich von der Arbeit frei nehmen, um Lena begleiten zu können.
  4. Lena kommt zu spät zum Turnier, weil der Stadtbus (der als barrierefrei mit Rollstuhlrampe angegeben ist) kaputt ist und ein anderer Bus gekommen ist. Deswegen muss Lena auf den nächsten Bus warten oder eine Taxe für Rollstuhlfahrerinnen bestellen und zahlen.
  5. Lena ist deswegen müde, traurig und gestresst am Turnier angekommen.
  6. Lena hat keine Zeit mehr, vor der Partie zur Toilette zu gehen.
  7. Lena muss deswegen während der Partie mit ihrer Assistenzperson zur Toilette. Der Schiedsrichter des Turniers erlaubt dieses jedoch nicht. Lena muss alleine einen sehr weiten weg zurücklegen, um an das Behinderten-WC zu kommen.
  8. Lena findet Putzeimer, die das Behinderten-WC blockieren. Lena muss sehr viel Kraft und Energie aufbringen, um die Hindernisse wegzuräumen, weil Lena ja keine Begleitung mitnehmen konnte. Lena braucht aufgrund ihrer Behinderung mehr Zeit auf dem WC als gesunde Menschen. Lena kommt zum Turniersaal zurück und ist sehr müde von den zusätzlichen Anstrengungen.
  9. Lena hat 20 Minuten für den Toilettengang gebraucht. Der Schiedsrichter hat sich aber geweigert, die Uhr zu stoppen. Somit hat Lena aufgrund von äußeren Hindernissen 20 wertvolle Minuten zum Nachdenken verloren.
  10. Lena spielt trotz allem gut und gewinnt einen Preis. Lena kommt jedoch nicht auf die Tribüne, weil diese nur Stufen hat. Lena bekommt ihren Preis also vor der Tribüne überreicht.
  11. Lena ist nicht auf den SiegerInnen-Foto dabei, da Lena nicht auf die Tribüne kommt. Die anderen Preisträger und Preisträgerinnen gehen nicht von der Tribüne runter, um gemeinsam mit Lena das Foto zu machen.
  12. Lena hört während des Turniers Getuschel und Lästereien über ihr Aussehen und ihre sichtbare Behinderung.
  13. Lena fährt erschöpft und mit schlechten Erfahrungen vom Turnier zurück.
  14. Lena ist traurig, weil sie nicht wie alle anderen Teilnehmenden respektiert wurde.

Dieses vereinfachte Beispiel zeigt auf:

Person XY spielt ihre Partie nur mit zwei Bauern, weil die anderen sechs ihr weggenommen werden.
  • Lena würde das Spiel mit zwei Bauern weniger anfangen, weil Lena an chronischen Schmerzen leidet und diese ihre Konzentration schwächen.
  • Lena verliert einen weiteren Bauern, weil der barrierefreie Bus nicht wie angekündigt gekommen ist.
  • Lena verliert wegen der Hindernisse zum WC zwei weitere Bauern and Erschöpfung und Zeitverlust.
  • Lena verliert einen weiteren Bauern, weil ihr Gegner sich über ihr Gespräch mit dem Schiedsrichter lustig gemacht hat. Person Lena fühlt sich unwohl und verletzt.
  • Lena hat das Spiel also nur mit zwei Bauern von sechs oder sogar sieben Bauern, die Lena hat, wenn sie keine zusätzlichen Hindernisse überwinden muss.
  • Lena musste auch viel mehr Geld bezahlen als gesunde Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
  • Wir veranschaulichen, dass es dank Inklusion nur fairer für alle Schachspielenden wird. Inklusion schenkt keine Bauern. Inklusion verhindert aber, dass zusätzliche Bauern chronisch kranken und behinderten Menschen durch nicht-barrierefreie Rahmenbedingungen genommen werden.
  • Lena wird aufgrund dieser Erfahrung Schachturniere vermeiden, weil sie sich nicht respektiert gefühlt hat. Somit kann sich das Talent von Lena nicht entfalten und eine tolle Spielerin geht verloren.

Zusammenfassung:

Nur wenn Nachteilsausgleiche und gelungene Inklusion sichergestellt sind, können alle Schachspielende gleichberechtigt am Schachleben teilnehmen. Nachteilsausgleiche, Hilfen oder Assistenz sind keine Geschenke oder „extra Bauern“. Sie gewährleisten, dass chronisch kranke oder behinderte Menschen sich wie gesunde Menschen auch nur aufs Schachspielen konzentrieren können.

Mit Inklusion wird versucht, dass alle Personen Schach unter den gleichen Bedingungen speilen können. Wenn Inklusion erfolgreich ist, wird verhindert, dass den Betroffenen unnötigerweise Bauern weggenommen werden.

2 Antworten

  1. BBS

    tolle Idee, ein toller Ansatz. Ja, das ist doch vielen Menschen gar nicht bewusst, wie eine Behinderung behindern kann. Wir drücken euch ganz dolle die Daumen für euer Projekt. Herzliche Grüße BBS #blindleben /DT

    wir haben euch auf bluesky gefunden.

    1. Tatiana Flores

      Vielen Dank für den Kommentar und eure Unterstützung! Gemeinsam können wir in der (Schach-)Welt viel Verbessern.

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